Christoph Schulte-Richtering, Autor

"Den meisten Menschen fehlt die Phantasie, hinter dem Klamauk die Substanz zu erkennen."

Stefan Raab

Kommt ein Skelett zum Arzt...

Im Schweinsgalopp durch die Geschichte des Humors

I.
Das Lächeln, so sagen die alten Griechen, stamme von den Göttern. Die Olympier brechen zweimal in „homerisches Gelächter“ aus: Einmal, als sie einen handfesten Ehekrach zwischen Zeus und Hera beobachten (in der „Ilias“) und einmal, als sie Ares und Aphrodite bei unsittlichem Treiben beobachten (in der „Odyssee“).

Später deutet Aristoteles folgerichtig das menschliche Lachen als ein Erbe eben dieser Götter. Dieses göttliche Erbe unterscheide den Menschen vom Tier und mache ihn damit einzigartig.
Aber bereits in der christlichen Spätantike des 4. Jahrhunderts kehrt sich diese humorfreundliche Deutung um: Jesus Christus habe nie gelacht, so der größte Prediger der griechischen Kirche, Johannes Chrysostomus.


Johannes Chrysostomus (345-407)

Diese These führt zu einer folgenschweren, feindlichen Haltung der christlichen Kirche gegenüber dem Lachen, die mindestens bis ins 14. Jahrhundert vorhält und auch heute noch ihre Spuren hinterlassen hat (z.B. die, dass in der Kirche Gelächter in der Regel als unangemessen empfunden wird).

Das Lachen töte die Furcht, so die gängige mittelalterliche Meinung. Und wenn es keine Furcht mehr gebe, werde es auch keinen Glauben geben. Wer lacht oder gar den Teufel auslacht, laufe Gefahr, den Teufel nicht mehr zu fürchten und schließlich mit ihm zu lachen. Aristoteles als Anwalt des Lachens wird im Mittelalter folgerichtig als ein Anwalt des Teufels gesehen.


II.
Diese Denkfigur findet sich unvergleichlich beschrieben in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“: Der blinde Bibliothekar Jorge von Burgos hütet in seinem „Giftschrank“ das einzig erhaltene Exemplar des zweiten Teils der „Poetik“ von Aristoteles – über das Lachen und die Komödie (der erste, erhaltene Teil handelt von der Tragödie und der Furcht).


Dieses Buch über die Komödie gehört für den mittelalterlichen Mönch zu den Werken des Teufels, deshalb verhindert er die Lektüre, indem er jede Seite des unter Verschluss gehaltenen Buches mit einem Kontaktgift beschmiert, das allzu neugierige Leser beim Umblättern zu Tode kommen lässt.


Die zunächst mysteriösen Todesfälle in dem piemontesischen Kloster soll der Franziskanermönch William von Baskerville aufklären. In diesem Kloster arbeiten Kopisten aus ganz Europa, die berühmte Bücher abschreiben (es gibt ja noch keinen Buchdruck mit beweglichen Lettern), und die ihre eintönige Arbeit manchmal mit eigenwilligen Verzierungen etwas aufpeppen.

Zum Glück ist Jorge blind, denn so konzentriert er sich auf die „Poetik“, und es entgehen ihm diese amüsanten Malereien seiner Novizen in anderen Büchern – Bestiarien, in denen die Teufel als kleine Monster mit drei Augen oder als Elefanten mit fünf Hörnern und acht Beinen dargestellt werden; lustige Darstellungen, die uns aus späteren Gemälden von z.B. Hieronymus Bosch wohlbekannt sind, und die Jorge wohl ziemlich auf die Palme gebracht hätten.



Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass die heutige kirchliche Abwehrhaltung gegenüber Comics ihre Wurzeln bereits im Mittelalter hatte.
Im Streit um den zweiten Teil der aristotelischen „Poetik“ jedenfalls kommt es zu einem apokalyptischen showdown zwischen dem neugierigen Franziskaner William und dem starrsinnigen Benediktiner Jorge von Burgos. Jorge wirft William vor, dem Teufel Vorschub zu leisten, indem er das Lachen toleriere – William hingegen zahlt ihm mit gleicher Münze zurück: Mitnichten sei das Lachen teuflisch, vielmehr sei es teuflisch, nicht zu lachen – denn ein Glaube ohne Lächeln sei eine Arroganz des Geistes.

Eine Wahrheit, die nie von Zweifeln befallen wird, sei unmenschlich. Humor als teuflisch zu verdammen, heiße seinerseits, den Glauben mit dem lebensfeindlichen Eishauch des Teufels zu töten.
Jorge wirft mit einem Kerzenleuchter nach William, die Bibliothek geht mitsamt des zweiten Teils der „Poetik“ in Flammen auf – und wir werden nie erfahren, was Aristoteles noch über das Lachen zu sagen hatte, außer den wenigen Andeutungen, die er am Ende des ersten, erhaltenen Teils über die Tragödie macht, und die wir bereits kennen („das Lachen unterscheidet den Menschen vom Tier“, s.o.).

Natürlich ist der Teil über die Vernichtung des zweiten Teils der „Poetik“ Umberto Ecos Romanfiktion. Allerdings gibt es die These, dass der zweite Teil der „Poetik“ - sollte Aristoteles ihn überhaupt je geschrieben haben – tatsächlich bei einem der berühmten Brände der Bibliothek von Alexandria vernichtet wurde.
Der letzte war im Jahr 642, als Kalif Omar die Stadt eroberte und befahl, alle Bücher außer dem Koran zu verbrennen – denn entweder sie enthielten dasselbe wie der Koran, dann seien sie überflüssig, oder sie enthielten etwas anderes, dann seien sie gelogen. Alle Bücher wurden zur Beheizung der öffentlichen Bäder verbrannt – und vielleicht hat der zweite Teil der „Poetik“ zumindest ein paar Alexandrinern ein warmes Bad verschafft.


III.
Es ist im übrigen kein Zufall, dass William von Baskerville ein Franziskanermönch war – denn das Lächeln war das Attribut des Heiligen Franziskus, der als erster das Bild vom „fröhlichen Geber“ propagierte. Unter der Ägide der Dominikaner und Franziskaner wurde dann auch im 11. Jahrhundert zum ersten Mal unterschieden in „moralisch gutes“ und „moralisch schlechtes“ Lachen – das Ergebnis lässt sich heute noch am Bamberger Dom bewundern, wo bei der Darstellung des Jüngsten Gerichts die Erlösten milde auf den Betrachter herablächeln, während die Verdammten die Zähne fletschen und hässlich grinsen.
Als Zeichen der Allmacht Gottes müssen diese Verdammten neben den Bestiariums-Teufelchen bis heute ihren Strafdienst als grinsende Wasserspeier an nahezu jedem gotischen Dom versehen.


Diesen Anflug von Humor durch die grinsenden Wasserspeier, das kleine Lächeln, das den imposanten, sonst keinen Zweifel duldenden gotischen Kathedralen über die Vierung huscht, diese kleine Morgenröte verheißt uns bereits im tiefsten Mittelalter leise das Heraufziehen der Neuzeit:

Denn das Lachen besitzt auch immer eine Verneinung des Respekts und der Ehrbezeigung. Ein Glaube, dessen Status auf eben dieser Ehrbezeigung beruht, muss sich durch das Lachen prinzipiell bedroht fühlen. Er muss versuchen, im Interesse des eigenen Machterhalts den Drang zur Heiterkeit in andere Kanäle und von sich weg zu leiten – die Funktion des Wasserspeiers ist hier ganz wörtlich zu nehmen.


Dennoch: Die Aufnahme des grinsenden Wasserspeiers in die gotische Architektur ist für den mittelalterlichen Würdenträger nicht wie geplant Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn damit ist für die Ewigkeit fest verankert, was er eigentlich loswerden wollte.
Aus den gleichen Überlegungen entspringen natürlich auch der Karneval und, literarisch, die aus den Osterspielen entstandenen Hanswurstiaden.
Das Lachen wird langsam glaub-würdig.


Es wird aber noch über 300 Jahre dauern, bis ein handfester Augustinermönch seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg nageln wird. Diese 95 Thesen waren natürlich keine Humorsammlung, aber sie dienten demselben Zweck – der Infragestellung von Autoritäten und dem Aufruf zu kritischem Denken, das unverrückbare Wahrheiten nicht ohne weiteres gelten lässt.


IV.
Aber noch ist es lange nicht so weit. Noch glaubt man, das Lachen bringe die Seele aus dem Gleichgewicht. Lautes Lachen zeuge von mangelnder Gottesfurcht und störe die geruhsame Heiligkeit der Messe. Für lautes Lachen gab es harte Strafen. Wer während der Messe lachte, wurde für drei Tage exkommuniziert.


Der französische König Ludwig der Heilige (1224-1270, hier auf einem Gemälde von El Greco) versagte es sich, an Freitagen (dem Todestag Jesu) zu lachen. Und Mönche im Kloster mussten sich mit aller Gewalt zu Ernsthaftigkeit zwingen. Wer je einen Lachkrampf hatte, wird wissen, wie schwer das ist. Ein Lachkrampf wurde im Kloster mit außerordentlichem Fasten geahndet. Noch heute verdanken wir den Begriff „Heidenspaß“ dieser unchristlichen mittelalterlichen Lachaktivität.

Das mittelalterliche Lachen gründet sich im übrigen nicht auf dem Weitererzählen von Witzen, wie wir sie heute kennen. Diese Textsorte gab es nämlich noch gar nicht (s.u.). Sie gründet sich eher auf Situationskomik, auf dem als lustig empfundenen Gefälle zwischen „Angemessenem“ und „Tatsächlichem“. Wenn in der Heiligen Messe Feierlichkeit als „angemessen“ empfunden wird, aber dem Priester grummelt währenddessen der Magen, so wurde das als lustig empfunden.


Noch heute nähren sich Generationen von Comedians und Autoren aus der Tradition der produzierten „Fallhöhe“ (so der Fachterminus) zwischen „Angemessenem“ und „Tatsächlichem“, zwischen Erwartung und Realität. Ausnahmslos jeder TV-Sketch funktioniert nach diesem Prinzip. Je höher die vorher aufgebaute Spannung in der Erwartung und je tiefer der anschließende Fall in der Realität, desto lustiger die Situation. Und desto höher früher die Strafe für den mittelalterlichen lachenden Mönch.


Ob die mittelalterlichen Lach-Anlässe dann statt schriftlich mündlich tradiert wurden, wissen wir nicht. Eine schriftliche Überlieferung lustiger Geschichten kennt man zwar aus dem byzantinischen „Philogelos“ (dem „Lachfreund“) aus dem 3./4. Jahrhundert.
Aber fast zeitgleich, nämlich nach Johannes Chrysostomus (+407 n. Chr., „Jesus hat nie gelacht“, s.o.), erschien es nicht hilfreich, vermeintlich schädliche Texte mühselig zu kopieren oder zu sammeln. Die kurze Tradition des Sammelns lustiger Texte endet also schlagartig und lebt erst wieder im späten 15. Jahrhundert auf – vielleicht auch ein Grund dafür, warum das Mittelalter „dunkel“ genannt wird.


Die katholische Kirche verzichtet übrigens erst im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) höchstoffiziell auf diese humorfeindliche Haltung. Konsequenterweise wird auch exakt seit dem Konzil allen Päpsten ein Sinn für Humor nachgesagt.
Stark bei Johannes dem XXIII., Johannes Paul I. und Johannes Paul II., neuerdings natürlich auch bei Benedikt XVI., weniger bei Paul VI. Bei allen 261 Vorgängern zählte der Humor nicht zu einer erwähnenswerten Eigenschaft.


V.
Humor und Lachen ist das eine. Ein „Witz“ aber ist das andere. Erst seit dem 19. Jh. besitzt das Wort „Witz“ die Bedeutung, wie wir sie heute kennen, nämlich die einer kurzen Geschichte, die in einer scherzhaften Pointe mündet. „Witz“ entstammt eigentlich dem Wortfeld „Wissen“.


Vor dem 19. Jahrhundert war „Witz“ ausschließlich eine Sache des Verstandes und der Klugheit. Wer witzig war, schaltete schnell, war geistreich und schlagfertig. Mit Humor hatte das zunächst nicht unbedingt etwas zu tun. Ein Rest dieser Bedeutung lässt sich heute noch in den Wörtern „Mutterwitz“, „aberwitzig“ oder „gewitzt“ finden. Was wir heute unter „Witz“ verstehen, nannte man früher „Anekdote“ oder „Schwank“ (mhd. <swanc>: Streich, schwingende Bewegung).


Die Kommunikationskultur des ausgehenden Mittelalters säkularisiert sich zunehmend. Davon bleibt der Humor natürlich nicht unberührt. Der Humor wandert mit den Bettel- und Pilgermönchen des Spätmittelalters aus den Klöstern heraus rein in die Wirtshäuser.
Nicht, dass es dort vorher keinen Humor gegeben hätte, aber die Tabuierung und Verdammnis des Lachens nimmt erst im Spätmittelalter ab. Außerdem stehen die Möglichkeiten der größeren Vervielfältigung und der schriftlichen Überlieferung „unheiliger“ Schriften erst seit dem späten 15. Jahrhundert zur Verfügung.


VI.
Schwänke entstehen meist dort, wo viele Menschen aufeinander hocken, am Arbeitsplatz, beim Militär oder eben im Wirtshaus. Vor allem die Landsknechte des 16. und 17. Jahrhunderts sorgten für die Verbreitung der Schwänke. Die Themen sind immer die gleichen: Schwänke handeln von außergewöhnlicher Stärke, außergewöhnlicher Dummheit oder außergewöhnlicher Schläue.

Sie handeln von Menschen, die man auf der Reise kennen gelernt hat oder von denen man hat erzählen hören. Oft stehen sich zwei ungleiche Partner gegenüber, von denen der eine scheinbar überlegen ist, vom scheinbar Schwächeren aber ausgetrickst wird. Zuweilen dreht sich die Geschichte auch wieder um,so dass dann der Trickreiche seinerseits wieder hereingelegt wird.
So bringen es einige der Schwank-Helden zu gewisser Berühmtheit, sei es, weil sie besonders schlau, sei es, weil sie besonders doof sind.

Ihre berühmtesten Vertreter Till Eulenspiegel, Simplicius Simplicissimus und Don Quijote de La Mancha sind alles komische Erben der ernsthaft reisenden Soldaten in der Tradition von Parzival, Erec oder Siegfried.

Durch die Komik, aber auch durch den lehrhaften Charakter der Schwänke dienen sie oft als Vorlagen für Kinderbücher, neben Till Eulenspiegel sind dies vor allem die Geschichten der Schildbürger oder die Geschichte des "Rattenfängers von Hameln".
Ihr Ursprung ist aber meistens eine Erzählung für Erwachsene, verbreitet von Landsknechten vor allem im Dreißigjährigen Krieg.

Oft ist der Schwank verbunden mit einer Moral oder einer Lehre, die man aus der Geschichte ziehen soll. Hier liegt auch wohl der Hauptunterschied zum späteren Witz. Während der Schwank auch belehren will, will der Witz nur unterhalten.

Das Horazische prodesse et delectare wird also später eindeutig zugunsten des delectare verschoben.


VII.
Die Textsorte des erzählten Witzes verdanken wir der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert und schließlich der Reichsgründung 1871. Der deutsche Idealismus wird von einem handfesteren Realismus verdrängt.


Romantik und Idealismus fordern von ihren Texten immer einen „höheren Zweck“. Das muss kein lehrhafter Schwank sein wie im 16. Jahrhundert; Texte können auch, wie z. b: im romantischen Kunstmärchen der Entdeckung einer höheren, künstlerischen Wirklichkeit dienen. Damit ist es im positivistischeren, „realistischeren“, späten 19. Jahrhundert vorbei.
Ein Text muss deutlich sagen, was er will. Die Gebrauchsanweisung als Beipackzettel z. B. ist eine Erfindung dieser Zeit. Dementsprechend soll ein Witz nur für einen Witz gelten. Er soll einen nicht mehr zu Höherem inspirieren oder belehren, er will nicht mehr und nicht weniger sein als witzig.

Die Themen der Witze sind ebenfalls eng an die Reichsgründung gekoppelt:
Erst ab 1871 finden sich beim Militär verschiedene Landsmannschaften in einer nationalen Armee zusammen, so dass z. B. die regionale Herkunft zum Thema lustiger Erzählungen wird: Schwabenwitze, Bayernwitze, Sachsenwitze etc., eine Tradition, die sich bis ins Militär des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Diese Kurzerzählungen besitzen noch Elemente des Schwankes, sind aber kürzer und wesentlich deutlicher auf eine Pointe hin ausgerichtet.


Damals waren die Charakteristika der einzelnen Landsmannschaften jedem Soldaten bekannt, so dass man sicher sein konnte, dass die Witze auch von jedem verstanden wurden. Das ist nicht selbstverständlich: Ein Witz muss sich immer auf einen gemeinsamen kulturellen Horizont beziehen. Es muss ein gemeinsames Wissen von Erzähler und Zuhörer darüber bestehen, dass z. B. Schotten geizig, Schweizer langsam und Ostfriesen dumm sind, andernfalls wird der Witz ins Leere gehen, und es bleibt nicht aus, dass man zuweilen über alte Witze nicht lacht. Nicht, weil man sie schon kennt, sondern weil man sie einfach nicht versteht.


Der größte gemeinsame kulturelle Nenner des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts war nun mal das Militär. Deshalb die vielen landsmannschaftlich und medizinisch gefärbten Witze. Später im 20. Jahrhundert wechseln die Inhalte der Witzemoden deshalb immer schneller, weil die kulturellen Horizonte immer schneller wechseln. Gnädige-Frau-Witze, Zerstreute-Professor-Witze, Arztwitze, Häschenwitze, Ossi-Wessi-Witze. Erzähl-Witze wie diese sind kennzeichnend für den Zeitraum von ca. 1870 bis ca. 1985. Auf das so genannte „Setup“ („Kommt ein Skelett zum Arzt …“) folgt die „Punchline“ („… sagt der Arzt: Das wurde aber auch Zeit!“).


VIII.
Die Entwicklung führt nach dem Krieg langsam mehr und mehr weg vom erzählten Witz über den gereimten Witz („Noch’n Gedicht“) hin zu mehr Situationskomik. Das hat sich seit der Einführung des Privatfernsehens 1984 noch beschleunigt: Der amerikanischen Tradition der standup comedy folgend, gibt es im deutschen Fernsehen der Gegenwart eher die szenische Produktion „unangemessener“ Situationen als das reine Erzählen tradierter Witze.


Bilder sind einfach stärker als lediglich Erzähltes, und deshalb lacht seit 1984 der junge RTL-Zuschauer mehr über die berühmte Torte im Gesicht als über erzählte Witze der Struktur „Kommt ein Skelett zum Arzt …“ Die Generation des traditionellen Witze-Erzählers vom Schlage eines Fips Asmussen ist heute eher vom Aussterben bedroht. Nur logisch, dass heute Witze-Erzähler nicht mehr Witze-Erzähler, sondern Comedians genannt werden.


Das Argument des „gemeinsamen kulturellen Horizonts“ gilt aber auch für den Witz der Gegenwart: Da der moderne Fernseh-Witz (wie man ihn in Sketchen oder Comedy-Shows sieht) immer auf eine möglichst große Zuhörerschaft zielt, sich aber gleichzeitig immer auf einen gemeinsamen kulturellen Horizont beziehen muss, bleibt dem modernen Comedian nichts anderes übrig, als sich für sein Material auf den größten gemeinsamen Nenner der deutschen Gegenwartskultur zu beziehen – die BILD-Zeitung.

Nur von dem, was in der BILD-Zeitung steht, kann man ruhigen Gewissens ausgehen, dass es am betreffenden Tag eine hinreichend große Gemeinschaft erreicht hat. Eine Meldung in der FAZ kann nur eine Minderheit erreichen. Das Gleiche gilt für ein Schiller-Drama oder das Edikt von Nantes: Wenn man nicht weiß, worum es geht, wird man auch keinen Witz darüber verstehen.


IX.
Wechselnde Witzemoden hängen also ganz stark ab von wechselnden kulturellen Horizonten. Und wenn die Sonne der Kultur eben niedrig steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Man kann das bedauern oder nicht: Die Frage ist, was den Zuhörern mehr Freude macht: eine leichte Zote, über die aber alle lachen, oder ein Bildungswitz, bei dem alle ein betretenes Gesicht ziehen, weil sie ihn nicht verstehen.


Es gibt aber Hoffnung für die Freunde der Bildung, denn bei aller Wechselhaftigkeit des Humors gibt es auch Konstanten, die sich über Jahrhunderte halten: Über den alten Adenauer erzählte man sich z. B. den Witz, er habe nachprüfen wollen, ob Schildkröten tatsächlich 300 Jahre alt werden können, und deshalb habe er sich eine junge Schildkröte gekauft.
Bereits im 3. Jahrhundert nach Christus findet sich in der bereits erwähnten byzantinischen Witzesammlung „Philogelos“ die Geschichte von einem Mann, dem man erzählt, dass Raben mehr als 200 Jahre alt werden können. Daraufhin kauft er sich einen Raben, um den Wahrheitsgehalt dieser Information zu überprüfen.


Die Inhalte, Themen und Horizonte der Witze wechseln stark, die Struktur des Humors aber bleibt über Jahrhunderte erstaunlich gleich. Eigentlich gibt es keine neuen Witze, sondern nur Leute, die die alten Witze noch nicht kennen.


Eine alte Witz-Autoren-Weisheit lautet: Einen guten Witz kann man hundertmal erzählen. Man darf bloß nicht vergessen, die Inhalte auszutauschen. Sonst langweilt man oder irritiert seine Zuhörer und erreicht das Gegenteil von dem, was man ursprünglich bezweckte: zu unterhalten.